Verwissenschaftlichung
Landwirtschaft wurde zur Wissenschaft
In Rheinhessen besitzen Leiterinnen und Leiter eines Weinbaubetriebs heute üblicherweise Bachelor, Master, Diplom, Meister- oder Technikertitel aus Forschungsanstalten und Weinbauschulen. Die hohe Berufsmotivation zeigt sich auch darüber hinaus in Aus- und Weiterbildung aller Beteiligten. [Anm. 1] Das wissenschaftlich fundierte Berufsethos beruht dabei auf einer etwa 250 Jahre alten Tradition und war ursprünglich ein phänomenal neuartiges Konzept.
Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts lässt sich im deutschsprachigen Raum in vielen Berufszweigen und wissenschaftlichen Disziplinen eine Abkehr von antiken Tradierungen feststellen. Mennonitische Bauern, die schon früher aus der Schweiz nach Rheinhessen eingewandert waren, profilierten sich vielerorts als Pioniere neuer Methoden. [Anm. 2] Praktische Beobachtungen und Experimente rückten zu dieser Zeit stärker in den Fokus anstelle von bisher häufig auf (Text-)Tradition und auf Frömmigkeit basierenden Methoden. [Anm. 3] Der Prozess wird als „Verwissenschaftlichung“ bezeichnet. Auch der Weinbau wurde durch diesen neuen Ansatz revolutioniert.
Im 19. Jahrhundert erlangte der Weinbaufachmann Johann Philipp Bronner besondere Bedeutung. Zu seinen Lebzeiten, und auch unter seinem Einfluss, verbreitete sich in Rheinhessen eine überregional ausgerichtete Weinbauwissenschaft und das heute gängige Fortschrittsparadigma. [Anm. 4] Zahlreiche Schriften dutzender Autoren verfeinerten die Anbaumethoden, führten zu qualitativ höherwertigen Weinen und zu einer immer stärkeren Rationalisierung der Branche. [Anm. 5]
Vernetzung und neue Methoden
In Sachen Vernetzung zeigten sich die rheinhessischen Winzerinnen und Winzer engagiert, obwohl dies von staatlicher Seite in einer politisch turbulenten Zeit mit Argwohn beobachtet wurde oder mitunter auch staatlicher Kontrolle unterstand. [Anm. 6] Das junge Vereinswesen erlebte in dieser Zeit in vielen Lebensbereichen seine Blütezeit. Dies galt auch für kleinere Städte und auf dem Land und auch abseits des klassischen Bürgertums. Die private und berufliche Vernetzung wurde institutionalisiert. 1831 wurde der Landwirtschaftliche Verein für das Großherzogtum Hessen gegründet. [Anm. 7] Der Verein kümmerte sich um die Wissensvermittlung, war Herausgeber einer Fachzeitschrift, organisierte Ausstellungen und Weiterbildungsmaßnahmen und wirkte durch personelle Verflechtungen bei der Ausgestaltung der Agrargesetzgebung im Großherzogtum mit. Neben Landwirten waren viele wohlhabende Personen des rheinhessischen Wirtschafts- und Bildungsbürgertums im Verein vertreten. Diese hatten oft den finanziellen Rückhalt, um neue Methoden zu erproben und fungierten in ihrer Region als Multiplikatoren. [Anm. 8] Ab den 1850er Jahren etablierten sich zudem etwa 30 landwirtschaftliche Casinos in Rheinhessen, die später in den sogenannten landwirtschaftlichen Kränzchen aufgingen. Sie boten denjenigen eine Alternative, die mit der mangelnden Flexibilität der Vereinsstrukturen unzufrieden waren. 1878 kam der Provinzialverband für Rheinhessen, im Jahr 1883 der Hessische Bauernverband und 1900 als Dachorganisation die Landwirtschaftskammer für das Großherzogtum Hessen hinzu, deren rheinhessische Kammer in Alzey saß. [Anm. 9]
Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts begannen die staatlichen Stellen in Hessen sich immer aktiver im Bereich der Weinbaupolitik zu engagieren. Dies geschah nicht zuletzt nach dem Vorbild der preußischen Verdienste für den Weinbau in der benachbarten Rheinprovinz. 1860 wurde in Geisenheim eine Obst- und Weinbauschule aufgebaut, die auch Winzerinnen und Winzer der linken Rheinseite ausbildete. 1891 und 1892 folgten Landwirtschaftsschulen in Alzey und in Mainz. [Anm. 10] Eine eigene Obst- und Weinbauschule für Rheinhessen wurde 1895 in Oppenheim gegründet – nicht zuletzt als Reaktion auf Forderungen des Landwirtschaftlichen Verbandes. Ein Bildungswesen mit Fachvorträgen, Weinbauberatung, Weinbauschulen und den zugehörigen Musterweinbergen wurde nach und nach etabliert. [Anm. 11]
Die Verwissenschaftlichung führte auch zu neuen Methoden in der Kellerwirtschaft. Mittels sogenannter Gallisierung und Chaptalisierung wurden seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Jahrgangsschwankungen ausgeglichen, also auch in schlechten Jahren qualitativ besserer Wein produziert. Dazu wurde der Most mit zusätzlichem Zucker angereichert, welcher in der Vergärung in Alkohol umgewandelt wird. Für die ersten experimentierfreudigen Winzer und Weinhändler in Rheinhessen, die das Verfahren noch im Geheimen anwandten und exakte Rezepturen von Dr. Gall käuflich erwerben mussten, war das Verfahren für einige Jahre ausgesprochen lukrativ. [Anm. 12] Betriebe mit Weinbergsbesitz in geringen Lagen profitierten in den nächsten Jahrzehnten von dem Verfahren. Winzer, die ihr hochwertiges Produkt ohne Zusätze produzieren konnten, distanzierten sich und begannen ihre Weine als „Naturweine“ zu vermarkten. [Anm. 13] Als Gegenreaktion auf das erste Weingesetz des Deutschen Reichs von 1892, [Anm. 14] welches Gallisieren unter bestimmten Bedingungen erlaubte, schlossen sich die Naturweinproduzenten zusammen: 1897 wurde der Verband der Naturweinversteigerer Rheinhessens gegründet. Durch Zusammenschluss der einzelnen Regionalverbände ging daraus 1910 der Verband deutscher Naturweinversteigerer hervor – ab 1971 bekannt als Verband Deutscher Prädikatsweingüter (VDP). [Anm. 15]
Urheberschaft
Autor: Simeon Guthier
Stand: 25.10.2022
Literatur
- Bauern- und Winzerverband Rheinland-Pfalz Süd. Unser Verband. URL: www.bwv-rlp.de/unser-verband (Zugriff: 4. Juli 2022).
- Bronner, Johann Philipp: Der Weinbau in der Provinz Rheinhessen, im Nahetal und Moseltal. In: Der Weinbau in Süddeutschland. Hrsg. v. Johann Philipp Bronner. Heidelberg 1834.
- Mahlerwein, Gunter: Wein und Politik. Rheinhessen im 19. Jahrhundert. In: Weinbau in Rheinhessen. Beiträge des Kulturseminars der Weinbruderschaft Rheinhessen zu St. Katharinen am 14. November 2015. Hrsg. v. Andreas Wagner. Wiesbaden 2016 (Schriften zur Weingeschichte, Bd. Nr. 190), S. 31–43.
- Ritscher, Edmund: 1200 Jahre Weinbau in Ibersheim. In: Worms. Heimatjahrbuch für die Stadt Worms. Arbeitswelten - Lebenswelten. Worms 2008 (Worms, Bd. 3).
- Schätzel, Otto: Rheinhessen - Weinregion mit Tradition. In: Rheinhessen – Identität – Geschichte – Kultur. Vorträge zum 10. Alzeyer Kolloquium des Instituts für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e.V. in Zusammenarbeit mit dem Altertumsverein für Alzey und Umgebung e.V. und der Arbeitsgemeinschafts Rheinhessische Heimatforscher e.V. sowie ergänzende Beiträge zur rheinhessischen Geschichte. Hrsg. v. Franz J. Felten [u.a.]. Stuttgart 2016 (Geschichtliche Landeskunde, Bd. 72), S. 93–100.
- Schlamp, Jacob: Familiengeschichte Schlamp. Lebensbeschreibung von Jacob Schlamp. Nierstein 2. Aufl., 1886 (2011).
- Schumann, Fritz: Der Weinbaufachmann Johann Philipp Bronner (1792 - 1864) und seine Zeit. Wiesbaden 1979 (Schriften zur Weingeschichte, Bd. 50).
- Schumann, Fritz: Historische Erziehungsmaßnahmen im Weinbau. In: Deutsches Weinbau-Jahrbuch. 21. Waldkirch i.Br. 1970, S. 26-36.
- Stauffer, Günther: Zur Geschichte des Bauern- und Winzerverbandes Rheinland-Pfalz-Süd e.V. Teil 1. In: Heimatjahrbuch Landkeis Alzey-Worms, Bd. 33 (1998), S. 123–129.
- Stauffer, Günther: Zur Geschichte des Bauern- und Winzerverbandes Rheinland-Pfalz-Süd e.V. Teil 2. In: Heimatjahrbuch Landkeis Alzey-Worms, Bd. 34 (1999), S. 126–135.
- Türk, Henning: Verwissenschaftlichung, Assoziierung, Verrechtlichung. Prozesse und Rahmenbedingungen des Weinbaus im deutschen Südwesten seit dem 19. Jahrhundert am Beispiel Rheinhessens. In: Weinbau in Rheinhessen. Beiträge des Kulturseminars der Weinbruderschaft Rheinhessen zu St. Katharinen am 14. November 2015. Hrsg. v. Andreas Wagner. Wiesbaden 2016 (Schriften zur Weingeschichte, Bd. Nr. 190), S. 10–30.