Zeichnung einer Traubenmühle aus einem Lehrbuch von Johann Ludwig Christ von 1782.
Zeichnung einer Traubenmühle aus einem Lehrbuch von Johann Ludwig Christ von 1782.  Bild: Christ, Johann Ludwig: Beyträge zur Landwirthschaft und Oekonomie. Frankfurt/Leipzig 1782. / Bayerische Staatsbibliothek (NoC-NC)

Verwissenschaftlichung

Landwirtschaft wurde zur Wissenschaft

In Rheinhessen besitzen Leiterinnen und Leiter eines Weinbaubetriebs heute üblicherweise Bachelor, Master, Diplom, Meister- oder Technikertitel aus Forschungsanstalten und Weinbauschulen. Die hohe Berufsmotivation zeigt sich auch darüber hinaus in Aus- und Weiterbildung aller Beteiligten. [Anm. 1] Das wissenschaftlich fundierte Berufsethos beruht dabei auf einer etwa 250 Jahre alten Tradition und war ursprünglich ein phänomenal neuartiges Konzept.

Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts lässt sich im deutschsprachigen Raum in vielen Berufszweigen und wissenschaftlichen Disziplinen eine Abkehr von antiken Tradierungen feststellen. Mennonitische Bauern, die schon früher aus der Schweiz nach Rheinhessen eingewandert waren, profilierten sich vielerorts als Pioniere neuer Methoden. [Anm. 2] Praktische Beobachtungen und Experimente rückten zu dieser Zeit stärker in den Fokus anstelle von bisher häufig auf (Text-)Tradition und auf Frömmigkeit basierenden Methoden. [Anm. 3] Der Prozess wird als „Verwissenschaftlichung“ bezeichnet. Auch der Weinbau wurde durch diesen neuen Ansatz revolutioniert.

Im 19. Jahrhundert erlangte der Weinbaufachmann Johann Philipp Bronner besondere Bedeutung. Zu seinen Lebzeiten, und auch unter seinem Einfluss, verbreitete sich in Rheinhessen eine überregional ausgerichtete Weinbauwissenschaft und das heute gängige Fortschrittsparadigma. [Anm. 4] Zahlreiche Schriften dutzender Autoren verfeinerten die Anbaumethoden, führten zu qualitativ höherwertigen Weinen und zu einer immer stärkeren Rationalisierung der Branche. [Anm. 5]  

Vernetzung und neue Methoden

In Sachen Vernetzung zeigten sich die rheinhessischen Winzerinnen und Winzer engagiert, obwohl dies von staatlicher Seite in einer politisch turbulenten Zeit mit Argwohn beobachtet wurde oder mitunter auch staatlicher Kontrolle unterstand. [Anm. 6] Das junge Vereinswesen erlebte in dieser Zeit in vielen Lebensbereichen seine Blütezeit. Dies galt auch für kleinere Städte und auf dem Land und auch abseits des klassischen Bürgertums. Die private und berufliche Vernetzung wurde institutionalisiert. 1831 wurde der Landwirtschaftliche Verein für das Großherzogtum Hessen gegründet. [Anm. 7] Der Verein kümmerte sich um die Wissensvermittlung, war Herausgeber einer Fachzeitschrift, organisierte Ausstellungen und Weiterbildungsmaßnahmen und wirkte durch personelle Verflechtungen bei der Ausgestaltung der Agrargesetzgebung im Großherzogtum mit. Neben Landwirten waren viele wohlhabende Personen des rheinhessischen Wirtschafts- und Bildungsbürgertums im Verein vertreten. Diese hatten oft den finanziellen Rückhalt, um neue Methoden zu erproben und fungierten in ihrer Region als Multiplikatoren. [Anm. 8] Ab den 1850er Jahren etablierten sich zudem etwa 30 landwirtschaftliche Casinos in Rheinhessen, die später in den sogenannten landwirtschaftlichen Kränzchen aufgingen. Sie boten denjenigen eine Alternative, die mit der mangelnden Flexibilität der Vereinsstrukturen unzufrieden waren. 1878 kam der Provinzialverband für Rheinhessen, im Jahr 1883 der Hessische Bauernverband und 1900 als Dachorganisation die Landwirtschaftskammer für das Großherzogtum Hessen hinzu, deren rheinhessische Kammer in Alzey saß. [Anm. 9]

Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts begannen die staatlichen Stellen in Hessen sich immer aktiver im Bereich der Weinbaupolitik zu engagieren. Dies geschah nicht zuletzt nach dem Vorbild der preußischen Verdienste für den Weinbau in der benachbarten Rheinprovinz. 1860 wurde in Geisenheim eine Obst- und Weinbauschule aufgebaut, die auch Winzerinnen und Winzer der linken Rheinseite ausbildete. 1891 und 1892 folgten Landwirtschaftsschulen in Alzey und in Mainz. [Anm. 10] Eine eigene Obst- und Weinbauschule für Rheinhessen wurde 1895 in Oppenheim gegründet – nicht zuletzt als Reaktion auf Forderungen des Landwirtschaftlichen Verbandes. Ein Bildungswesen mit Fachvorträgen, Weinbauberatung, Weinbauschulen und den zugehörigen Musterweinbergen wurde nach und nach etabliert. [Anm. 11]

Die Verwissenschaftlichung führte auch zu neuen Methoden in der Kellerwirtschaft. Mittels sogenannter Gallisierung und Chaptalisierung wurden seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Jahrgangsschwankungen ausgeglichen, also auch in schlechten Jahren qualitativ besserer Wein produziert. Dazu wurde der Most mit zusätzlichem Zucker angereichert, welcher in der Vergärung in Alkohol umgewandelt wird. Für die ersten experimentierfreudigen Winzer und Weinhändler in Rheinhessen, die das Verfahren noch im Geheimen anwandten und exakte Rezepturen von Dr. Gall käuflich erwerben mussten, war das Verfahren für einige Jahre ausgesprochen lukrativ. [Anm. 12] Betriebe mit Weinbergsbesitz in geringen Lagen profitierten in den nächsten Jahrzehnten von dem Verfahren. Winzer, die ihr hochwertiges Produkt ohne Zusätze produzieren konnten, distanzierten sich und begannen ihre Weine als „Naturweine“ zu vermarkten. [Anm. 13] Als Gegenreaktion auf das erste Weingesetz des Deutschen Reichs von 1892, [Anm. 14] welches Gallisieren unter bestimmten Bedingungen erlaubte, schlossen sich die Naturweinproduzenten zusammen: 1897 wurde der Verband der Naturweinversteigerer Rheinhessens gegründet. Durch Zusammenschluss der einzelnen Regionalverbände ging daraus 1910 der Verband deutscher Naturweinversteigerer hervor – ab 1971 bekannt als Verband Deutscher Prädikatsweingüter (VDP). [Anm. 15]

Urheberschaft

Autor: Simeon Guthier
Stand: 25.10.2022

Literatur

  • Bauern- und Winzerverband Rheinland-Pfalz Süd. Unser Verband. URL: www.bwv-rlp.de/unser-verband (Zugriff: 4. Juli 2022).
  • Bronner, Johann Philipp: Der Weinbau in der Provinz Rheinhessen, im Nahetal und Moseltal. In: Der Weinbau in Süddeutschland. Hrsg. v. Johann Philipp Bronner. Heidelberg 1834.
  • Mahlerwein, Gunter: Wein und Politik. Rheinhessen im 19. Jahrhundert. In: Weinbau in Rheinhessen. Beiträge des Kulturseminars der Weinbruderschaft Rheinhessen zu St. Katharinen am 14. November 2015. Hrsg. v. Andreas Wagner. Wiesbaden 2016 (Schriften zur Weingeschichte, Bd. Nr. 190), S. 31–43.
  • Ritscher, Edmund: 1200 Jahre Weinbau in Ibersheim. In: Worms. Heimatjahrbuch für die Stadt Worms. Arbeitswelten - Lebenswelten. Worms 2008 (Worms, Bd. 3).
  • Schätzel, Otto: Rheinhessen - Weinregion mit Tradition. In: Rheinhessen – Identität – Geschichte – Kultur. Vorträge zum 10. Alzeyer Kolloquium des Instituts für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e.V. in Zusammenarbeit mit dem Altertumsverein für Alzey und Umgebung e.V. und der Arbeitsgemeinschafts Rheinhessische Heimatforscher e.V. sowie ergänzende Beiträge zur rheinhessischen Geschichte. Hrsg. v. Franz J. Felten [u.a.]. Stuttgart 2016 (Geschichtliche Landeskunde, Bd. 72), S. 93–100.
  • Schlamp, Jacob: Familiengeschichte Schlamp. Lebensbeschreibung von Jacob Schlamp. Nierstein 2. Aufl., 1886 (2011).
  • Schumann, Fritz: Der Weinbaufachmann Johann Philipp Bronner (1792 - 1864) und seine Zeit. Wiesbaden 1979 (Schriften zur Weingeschichte, Bd. 50).
  • Schumann, Fritz: Historische Erziehungsmaßnahmen im Weinbau. In: Deutsches Weinbau-Jahrbuch. 21. Waldkirch i.Br. 1970, S. 26-36.
  • Stauffer, Günther: Zur Geschichte des Bauern- und Winzerverbandes Rheinland-Pfalz-Süd e.V. Teil 1. In: Heimatjahrbuch Landkeis Alzey-Worms, Bd. 33 (1998), S. 123–129.
  • Stauffer, Günther: Zur Geschichte des Bauern- und Winzerverbandes Rheinland-Pfalz-Süd e.V. Teil 2. In: Heimatjahrbuch Landkeis Alzey-Worms, Bd. 34 (1999), S. 126–135.
  • Türk, Henning: Verwissenschaftlichung, Assoziierung, Verrechtlichung. Prozesse und Rahmenbedingungen des Weinbaus im deutschen Südwesten seit dem 19. Jahrhundert am Beispiel Rheinhessens. In: Weinbau in Rheinhessen. Beiträge des Kulturseminars der Weinbruderschaft Rheinhessen zu St. Katharinen am 14. November 2015. Hrsg. v. Andreas Wagner. Wiesbaden 2016 (Schriften zur Weingeschichte, Bd. Nr. 190), S. 10–30.

Anmerkungen:

  1. Schätzel, Otto 2016, S. 99. Zurück
  2. Hierzu zählen David Möllinger aus Monsheim, Kaege aus Ibersheim, Christian Dettweiler aus Wintersheim, Abraham Stauffer aus dem nordpfälzischen Obersülzen und viele weitere; vgl. hierzu Ritscher, Edmund 2008, S. 147–148; Stauffer, Günther, S. 123. Zurück
  3. Ein wichtiger, früher Impuls darf Balthasar Sprenger aus Württemberg zugeschrieben werden, der zwischen 1766 und 1778 in drei Bänden das erste Weinbaulehrbuch im oben genannten Sinne verfasste; vgl. hierzu Schumann, Fritz, 1979, S. 5–6. Ebenfalls genannt werden soll das Werk „Beschreibung des edlen Weinstocks“ eines Herrn Beuchels, das 1781 nur wenig später in Frankfurt erschien. Vgl. hierzu außerdem Schumann, Fritz, S. 26. Für ein Beispiel rheinhessischer Experimentierfreude sei auf einen Mainzer Weinbergsbesitzer Herr Ackermann hingewiesen, der 1828 in Nackenheim hochwertigen Wein erzeugte, indem er nur die besten und reifsten Trauben auslesen und getrennt keltern ließ (und das Naschen strengstens untersagte). Das Fass erzielte damals 1900 Gulden statt der üblichen 200-250 Gulden. Er erreichte mit diesem Experiment regional einige Bekanntheit; vgl. hierzu Türk, Henning 2016, S. 14. Zurück
  4. Türk, Henning 2016, S. 13; Schumann, Fritz, 1979, S. 6. Zurück
  5.   Als wichtigste Autoren des 19. Jahrhunderts sei auf Johann Metzger, Johann Philipp Bronner, Adolph Tränhart, Franz Xaver Trummer, S. W. Knecht, M. J. L. Stolz, J. Dornfeld, J. G. A. Wirth, E. Würth, August Wilhelm von Babo und Ernst Mach hingewiesen. Ihren vorübergehenden End- und Höhepunkt fand die Entwicklung der „umfassenden Weinbaubeschreibung“ erst im frühen 20. Jahrhundert mit der Arbeit von Friedrich von Bassermann-Jordan. Zurück
  6. Türk, Henning 2016, S. 17. Zurück
  7.   Der halbstaatliche Verein wurde auf Initiative des Großherzogtums Hessen „von oben“ gegründet, aber die rheinhessische Elite war durchaus auch in höchsten Funktionen vertreten: Der Monsheimer Gutsbesitzer Freiherr von Gagern war seit 1838 Sekretär des Vereins, von 1845-49 Präsident. Von 1861-74 war Regierungsrat Pfannebecker aus Worms Vorstand; vgl. hierzu Stauffer, Günther, S. 125.  Zurück
  8. Türk, Henning 2016, S. 17–18; Mahlerwein, Gunter 2016, S. 40–41. Zurück
  9. Stauffer, Günther, S. 125–126. 1932 gab es demnach vier wesentliche Interessensvertretungen für Winzer in Rheinhessen. Da viele Winzer zudem auch noch weitere Landwirtschaft betrieben (Ackerbau, Obst- und Gemüsebau, Viehzucht, Imker etc.), kamen jedoch noch zahlreiche weitere Institutionen hinzu; eine gute Übersicht bietet Stauffer, Günther, S. 127–128. Bauernverbände gibt es bis heute: 1947 trafen sich etwa 45 rheinhessische Bauern zur Gründungsversammlung des Gesamtrheinhessischen Bauernverbands (zunächst ohne Genehmigung der Besatzungsbehörde), vor allem auf Initiative von Ökonomierat Emil Schätzel aus Guntersblum, Ernst Wetzel aus Alsheim und Hugo Müller aus Gonsenheim. Der Weinbauverband innerhalb des Bauernverbands unterstand zunächst der Leitung von Franz-Hermann Schmitt aus Nierstein. 1989 fusionierte der Verband mit dem Pfälzer Bauern- und Winzerverband zum Bauern- und Winzerverband Rheinland-Pfalz Süd, der heute über 12.000 Mitglieder in 611 Ortsvereinen organisiert; vgl. hierzu Stauffer, Günther, 123 und 130-132; Bauern- und Winzerverband Rheinland-Pfalz Süd. Unser Verband. URL: www.bwv-rlp.de/unser-verband (Aufruf: 4. Juli 2022). Zurück
  10.  Dienstleistungszentrum Ländlicher Raum RNH: 1895-2020. 125 Jahre Dienstleistungszentrum Ländlicher Raum Rheinhessen-Nahe-Hunsrück. Bad Kreuznach 2020, S. 11. URL: https://www.dlr-rnh.rlp.de/C1256EA7002BE0CB/CD7938A6F84A5029C125702D00367433/$FILE/Broschuere%20_125%20Jahre_DLR%20R-N-H.pdf (Aufruf: 14. Juni 2022). Zurück
  11. Mahlerwein, Gunter 2016, S. 41. Zurück
  12. Das Verbessern von Wein war nach damaligem Verständnis noch nichts grundsätzlich Unmoralisches. Gute Einblicke – auch in die Selbstwahrnehmung – erhält man durch die von Jacob Schlamp in Nierstein geschilderte Geschichte, wie er über seinen Freund, den Buchbinder Benack, 1844 durch einen glücklichen Zufall an das Thema kam und anschließend mit Dr. Gall in Korrespondenz trat. Bis in die frühen 1850er Jahre verfeinerte Jacob Schlamp die Rezeptur und sah sich daher zeitlebens in der Rolle eines Pioniers auf dem Gebiet. Er experimentierte nur mit weniger guten Jahrgängen, deshalb setzte er seine Versuche zwischenzeitlich aus. Im Jahr 1852 schloss Schlamp sich mit dem Weinhändler Herrn Leuchs, der ihm das notwendige Kapitel zur Verfügung stellte, zu einer Geschäftspartnerschaft zusammen: Gemeinsam kauften sie günstige Jahrgänge auf und bereiteten daraus mit Kolonialzucker des Mainzer Spezereihändlers Heiser hochwertige Weine. Gall selbst empfahl die Verwendung von billigeren Kartoffel- oder Rübenzuckern, was jedoch nach Schlamps Empfinden negative Spuren im Geschmack nach sich zog; vgl. hierzu Schlamp, Jacob, 1886 (2011), S. 78–80. Zurück
  13. Türk, Henning 2016, S. 19–20. Zurück
  14.   Reiner Kunstwein, also chemische Mischungen aus Wasser, Säure und Geschmacksstoffen ohne irgendeine Zugabe von Trauben, wurde durch das neue Gesetz verboten. Bei Erhebungen 1878 war zuvor festgestellt worden, dass 20 Prozent aller untersuchten Weine im Deutschen Reich „verfälscht, verdorben oder giftig“ gewesen seien. Einige der Inhaltsstoffe wurden jedoch zunächst noch innerhalb gewisser Grenzwerte zugelassen. Erst durch die Weingesetze von 1901 und 1909 wurden die Vorgaben nochmals verschärft und präzisiert – vor allem im Bezeichnungsrecht – und auch erstmals eine grundsätzliche Definition für das Getränk formuliert: Wein war fortan nur noch das „durch alkoholische Gärung aus dem Saft der frischen Weintrauben hergestellte Getränk“; vgl. hierzu Türk, Henning 2016, S. 25–28. Zurück
  15. Türk, Henning 2016, S. 21. Der Verband entwickelte sich rasch zu einem Qualitätskennzeichen für hochwertige Weine. 1926 trat sogar die staatliche Hessische Weinbaudomäne Mainz der rheinhessischen Sektion des Verbandes bei; vgl hierzu Fuchß, Peter 2016, S. 75. Zurück

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