Pfahlerziehung in Gau-Algesheim zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Pfahlerziehung in Gau-Algesheim zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Bild: Die Rheinweine Hessens. Mainz 1927. Zweite Auflage.

Geschichte der Rebenerziehung

Ein Einblick ins 19. Jahrhundert

Denkt man heute an Weingärten in Rheinhessen, so kommen einem einheitlich in Spalierreihen angeordnete Reben in den Sinn, die an Drahtrahmen erzogen werden. Vor der Mechanisierung sah die rheinhessische Rebenlandschaft ganz anders aus. [Anm. 1] Diese älteren Methoden erforderten mitunter eine stattliche Menge an Holz – je nach Erziehungsart.

Die Erziehungsmethoden beschäftigen die Menschen im Weinbau wohl bereits seit Beginn der Kultivierung. Ziel war seit jeher die Verbesserung von Qualität oder Ertragsmenge. Die geeignete Erziehung war auch abhängig von den vorherrschenden Rebsorten, basierte in der Praxis jedoch hauptsächlich auf der ortstypischen Tradition. Präzise Beschreibungen der verschiedenen Verfahren finden sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. 

Um die älteren Erziehungsmethoden zu verstehen, muss man sich die Voraussetzungen der vorindustriellen Zeit bewusst machen: Arbeitskraft war günstig, das Arbeitsmaterial war teuer. Die vergleichsweise schwachwüchsigen Pflanzen produzierten weniger Wein je Hektar. Wichtige Krankheiten und Schädlinge gab es noch nicht in Europa – namentlich Echter und Falscher Mehltau sowie die Reblaus. Vor der Mechanisierung waren sehr dichte Reihen von oft nur einem knappen Meter möglich. [Anm. 2]

An der südlichen Spitze Rheinhessens war die Kopferziehung bzw. der Bockschnitt vorherrschend. Die Pflanze trug sich dabei selbst und die eingekürzten Triebspitzen wurden im Sommer nach oben zusammengebunden. Im nördlichen Rheinhessen war die Halbbogen-Erziehung vorherrschend. Dabei wurden eine oder mehrere Rebentriebe, die vom Stock abgehen, in einem Halbbogen an einen Rahmen oder an Pfähle gebunden. Bei beiden Methoden gab es zahlreiche Varianten und regionale Ausprägungen. 

Bild: Ruralia commoda 1493 (CC0), http://tudigit.ulb.tu-darmstadt.de/show/inc-iv-184/0120
Bild: Ruralia commoda 1493 (CC0), http://tudigit.ulb.tu-darmstadt.de/show/inc-iv-184/0120
Bild: Ruralia commoda 1493 (CC0), http://tudigit.ulb.tu-darmstadt.de/show/inc-iv-184/0120
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Künstlerische Darstellungen von Reberziehungsmethoden aus der Zeit des Mittelalters sind selten. Diese Speyerer Holzschnitte von 1493 illustrieren einen Text aus dem Italien des 13. Jahrhunderts und zeigen daher nicht notwendigerweise die deutsche Arbeitspraxis zu dieser Zeit.

Erziehungsformen

Die Erziehung im Bockschnitt lässt sich in zwei Hauptformen unterteilen: Die zusammengebundene Erziehung und die gespaltene Bockschnitt-Erziehung. Bei der gespaltenen Variante wurde die Hälfte der Triebe jeweils mit denen der Nachbarpflanze zusammengebunden. Die klassische Erziehung fand sich im 19. Jahrhundert vor allem im Südosten Rheinhessens, rund um Worms, Westhofen und Osthofen; die gespaltene Erziehungsvariante herrschte im Zellertal im Südwesten, etwa von Wachenheim bis nach Kirchheimbolanden, vor. Das Gebiet gehört heute teilweise zur Pfalz. [Anm. 3]

Eine besondere Variante der gespaltenen Bockschnitt-Erziehung war die Erziehung als alleinstehender Sattel. Der Weinfachmann Johann Philipp Bronner kritisierte diese Form in seiner Arbeit aus dem Jahr 1834 hart, denn sie diente dazu, abgeschnittenes Laub als Winterfutter in der Mitte zum Trocknen aufzuhängen. Die Weintrauben waren dadurch im Schatten, und wenn es regnete, klebte der Grünschnitt an den Beeren fest und begünstigte Fäulnis. Seine Verzweiflung über die dortigen Winzer bringt Bronner glaubhaft zum Ausdruck: "Unbegreiflich, daß solche Mißbräuche nicht eingesehen werden. Fast wird man verleitet zu glauben, hier würden die Traubenstöcke nicht wegen der Trauben, sondern wegen dem Laube gezogen". [Anm. 4]

Die Halbbogen-Erziehung war in Rheinhessen damals am weitesten verbreitet. Über die Begrifflichkeiten der verschiedenen Varianten herrschte im 19. Jahrhundert jedoch Uneinigkeit: Man zählte zur Kategorisierung die Anzahl der Rebentriebe, die sogenannten „Schenkel“. Die Bewohner Rheinhessens unterschieden dabei jedoch sprachlich nicht, aus wie vielen Pflanzen diese Schenkel wuchsen – für Fachleute damals eine Unsitte. Bronner verwehrte sich gegen diese begriffliche Undifferenziertheit und beschrieb neben der Anzahl der Schenkel auch die Zahl der nebeneinander in einem Satz stehenden Pflanzen. [Anm. 5]  

Die einschenklige Halbbogen-Erziehung war in Rheinhessen vorherrschend. Sie war verbreitet vom Petersberg (Gau-Odernheim/Bechtolsheim) im Süden bis zum Ingelheimer Grund im Norden und bis nach Kreuznach im Westen. Im Ingelheimer Grund und in der Gegend Richtung Kreuznach war die Ausprägung teils zweisätzig, teils dreisätzig, in Bingen sogar viersätzig (also immer vier Pflanzen nebeneinandergesetzt und jeweils einen Trieb stehen gelassen). [Anm. 6] In Bingen war darüber hinaus einzigartig, dass die Gassen in den Weinbergen unterschiedlich breit waren. Nur jede zweite Gasse war zum Arbeiten und Durchlaufen geeignet. Die Halbbögen wurden immer von der Arbeitsgasse in Richtung der kleineren Gasse gebogen. [Anm. 7] In Gundersheim und teilweise in Westhofen war eine echte zweischenklige Halbbogen-Erziehung aus einer Pflanze üblich. An der Rheinterrasse von Oppenheim über Nierstein und Nackenheim bis kurz vor Mainz war eine drei- und vierschenklige Halbbogen-Erziehung verbreitet; ab Mainz dann wieder die zweisätzige einschenklige Halbbogen-Erziehung. [Anm. 8]

„eine wohlthätige krisis“

Eine rheinhessische Besonderheit stellten die Gegenden um Oppenheim und um Worms dar. In Oppenheim waren 2,40 Meter hohe Arkadenlauben anzutreffen. Diese standen nicht ausschließlich in der Nähe von Wohnhäusern, sondern überschatteten mitunter ganze Weingärten. Ihr Vorteil: Auf der Erde darunter konnte Gemüse angebaut werden. [Anm. 9] Überhaupt habe Bronner zufolge in Oppenheim viel „Chaos“ geherrscht und viele verschiedene Pfahl-, Rahmen- und Bockwingerte und dergleichen mehr stünden nebeneinander in den Weingärten. Zudem zog man keine geraden Reihen, sondern setzte die Pfähle je nach Bedürfnis mal mehr nach links oder rechts. Im benachbarten Dienheim sei diese Zickzack-Pflanzung sogar gezielt angelegt worden, um jedem Rebstock mehr Platz zu geben. Der Weinfachmann Bronner wollte all dies jedoch nicht nur tadeln, sondern lobte auch die Chance dieser Oppenheimer Experimentierfreudigkeit. Seines Erachtens würde sich über kurz oder lang die beste Erziehungsmethode durchsetzen. Er formulierte in diesem Sinne spitzzüngig: „Es ist also eine wohlthätige krisis, die man nur vorübergehen lassen darf.“ [Anm. 10]

In Worms war die niedrige und doppelte Rahmenerziehung charakteristisch. Dünne Stöcke, sogenannte Stiffel, lagen auf mehr oder weniger dicken Balken auf. [Anm. 11] Die wertvollste und aufwendigste Beholzung fand sich am Wormser Liebfrauenstift. Auf den höchsten Balken konnte darüber hinaus das zusammengebundene Laub getrocknet werden. [Anm. 12] Eine weitere Besonderheit der Wormser Gegend war die Spiral-Erziehung. Der Rebstock wird dabei direkt an einen von drei Pfählen gesetzt und seine Reben im „Schrauben-Gang“ um die beiden anderen Pfähle geführt. [Anm. 13] Letztlich pflanzte man hier, wie damals eher in der Vorderpfalz verbreitet, die Weinstöcke auch in einzelnen Rebzeilen zwischen den Äckern – also als schmackhafte Grenzmarkierung. [Anm. 14]

Urheberschaft

Autor: Simeon Guthier
Stand: 25.10.2022

Literatur

  • Bronner, Johann Philipp: Der Weinbau in der Provinz Rheinhessen, im Nahetal und Moseltal. In: Der Weinbau in Süddeutschland. Hrsg. v. Johann Philipp Bronner. Heidelberg 1834.
  • Scharff, Martin: Der Kammertbau. Zur Rekonstruktion einer historischen Reberziehungsweise in der Pfalz. Speyer, 1995 (Veröffentlichungen der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften in Speyer, Bd. 87).
  • Schumann, Fritz: Historische Erziehungsmaßnahmen im Weinbau. In: Deutsches Weinbau-Jahrbuch. 21. Waldkirch i.Br. 1970, S. 26-36.
     

Anmerkungen:

  1. Erst in der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhundert verbreitete sich die Erfindung des galvanisierten Drahts, der die in diesem Beitrag geschilderten Holzkonstruktionen weitgehend ablöste; vgl. hierzu Scharff, Martin, 1995, S. 43 und S. 52.  Zurück
  2. Schumann, Fritz, S. 26–27. Zurück
  3. Bronner, Johann Philipp 1834, S. 180–181. Auch 1872, rund vier Jahrzehnte später, war der Bockschnitt dort noch anzutreffen; vgl. Scharff, Martin, 1995, S. 23. Zurück
  4. Bronner, Johann Philipp 1834, S. 6–7. Zurück
  5. Er schrieb hierzu: „so ist doch jeder ein einzeln abgeschlossener Körper, der mit den neben ihm befindlichen in keiner organischen Verbindung steht“; zit. Bronner, Johann Philipp 1834, S. 110–111. Zurück
  6. Bronner, Johann Philipp 1834, S. 180–181; Schumann, Fritz, S. 29–30. Zurück
  7. Bronner, Johann Philipp 1834, S. 118–119. Zurück
  8. Bronner, Johann Philipp 1834, S. 180–181. Über die Erziehungsmethoden in Mainz selbst, wo damals noch innerhalb der Stadt Weinberge existierten, schweigt Bronner. Er begründet dies in seiner Arbeit damit, dass in der gesamten Gegend von Mainz, inklusive Nackenheim, Bodenheim und Laubenheim, keine ortsgebräuchlichen Erziehungsmethoden mehr auszumachen seien. Stattdessen sei die Gegend eine „wahre Musterkarte“, da die „Forenser“, also Bürgerliche aus Mainz, sich im Umland Weinberge kauften und dort verschiedene Gebräuche aus anderen Regionen erprobten; vgl. hierzu Bronner, Johann Philipp 1834, S. 88 (=fehlnummeriert als Seite 68). Eine mögliche alternative Deutung erlaubt eine Fußnote am Ende des Werks unterhalb der Nachschrift. Dort schreibt Bronner: „Der Sonderbarkeit wegen muß ich hier einen Fall anführen, dessen Beurtheilung ich dem Leser überlassen will. Nämlich in einer gewissen Stadt am Rheine hielt man (wie ich später erfuhr) meine Forschungen über den Bestand des dortigen Weinbaues für eine Maske zu politischen oder demagogischen Umtrieben, weshalb man mir ausweichend begegnete.“ Dass mit dieser „gewissen Stadt am Rheine“ die Stadt Mainz gemeint sein könnte, welche bis 1828 Sitz der Zensurbehörde des Deutschen Bundes war, ist naheliegend; vgl. hierzu Bronner 1834, S. 186. Zurück
  9. Schumann, Fritz, S. 36.; Auf diese Weise produzierter Wein hat weniger Gehalt. Bronner vermutet daher einen Zusammenhang zwischen dieser Methode und Weinorten, wo ein Verkauf von Trester direkt am Weinberg üblich ist. Damit solle also seiner Theorie zufolge verhindert werden, dass jemand den Laubenwein beim guten Wein untermischt; vgl. hierzu Bronner, Johann Philipp 1834, 68–72 und 74 und 77–78. Zurück
  10. Bronner, Johann Philipp 1834, S. 68–72, 74 und 77–78. Zurück
  11. Bronner, Johann Philipp 1834, S. 28-30 und 180-181; die Flurnamen in der Region, insbesondere um Worms-Hochheim, verweisen zudem darauf, dass es hier zu noch älteren Zeiten Kammertbau gegeben haben könnte, also eine Rahmenerziehung mit Querverbindungen in beide Richtungen; vgl. hierzu Scharff, Martin, 1995, S. 34–35. Zurück
  12. Bronner, Johann Philipp 1834, 23 und 25; Schumann, Fritz, S. 32–33. Zurück
  13. Bronner, Johann Philipp 1834, S. 28–30. Zurück
  14. Bronner, Johann Philipp 1834, S. 13 und S. 35. Zurück

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