Nahaufnahme einer Abbeermaschine. Sie trennt die Beeren von den Rappen (Stielen).
Nahaufnahme einer Abbeermaschine. Sie trennt die Beeren von den Rappen (Stielen). Bild: lunamarina / Shutterstock.com

Die Genossenschaftsidee

Gemeinschaftliches Wirtschaften im Weinbau

Die Genossenschaft in ihrer heutigen Ausprägung ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. [Anm. 1] Grundlegendes Ziel dieser Organisationsform ist die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage durch die gegenseitige Hilfe zur Selbsthilfe, indem die von der der Genossenschaft Unterstützten zugleich auch deren Mitglieder sind. Häufig wurde in gemeinsam genutzte, moderne Gerätschaften und Gebäude investiert, die für einzelne Betriebe zu kostspielig gewesen wären. Zudem vermarktete man die Weine oft auch gemeinsam und tauschte Erfahrungen aus. [Anm. 2]

Als älteste Winzergenossenschaft gilt die 1868 gegründete Genossenschaft in Mayschoß an der Ahr. Genossenschaftsähnliche Zusammenschlüsse existierten jedoch in Baden, Württemberg und an der Mosel bereits seit den 1820er Jahren. [Anm. 3] Die erste richtige Gründungswelle von Winzergenossenschaften fand um 1900 statt, die zweite Welle ab den 1920er Jahren. Vor allem in dieser zweiten Phase wurden vermehrt rheinhessischen Winzergenossenschaften gegründet. Es handelte sich dabei stets um eine Reaktion auf wirtschaftliche Notlagen. Die Gründungen wurden meist staatlicherseits gefördert: Bis 1933 durch Hessen und die Weimarer Republik, danach durch den Reichsnährstand. [Anm. 4] Die meisten Genossenschaften in unserer Region wurden dennoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet. Als Ursache kann möglicherweise gelten, dass in Rheinhessen Landwirtschaft und Weinbau noch lange in Mischwirtschaft betrieben wurden und daher vielleicht die „rasante Entwicklung für den rheinhessischen Winzer nicht so notwendig“ erschien. [Anm. 5]

Der Anfang mancher Genossenschaftsgründung war mitunter schwierig: So berichtet Siegfried Englert aus Westhofen für die fünf ersten Jahre, dass 24 Generalversammlungen abgehalten werden mussten, da Mitglieder sich teilweise nicht über ihre Pflichten im Klaren gewesen seien. [Anm. 6] Häufiger Streitpunkt war hier – wie vielerorts in Rheinhessen –, dass in den meisten Genossenschaften alle Mitglieder zur Ablieferung ihrer gesamten Ernte verpflichtet waren, selbst wenn der Besitz nicht in der Gemarkung lag. [Anm. 7] Konstellationen, bei denen findige Genossenschaftler ihre besten Lagen an Frau, Tante oder Kinder überschrieben hätten, um solche Regeln zu umgehen, finden sich heute noch in der mündlichen Überlieferung verschiedener Orte und sorgten früher für Unmut. Insgesamt hatte sich das gemeinschaftliche Konzept jedoch vielerorts bewährt und fand Nachahmer. 

Seit den 1960er Jahren setzte ein Konsolidierungsprozess ein: Einige Genossenschaften expandierten, andere gaben auf, oft fusionierten auch die Genossenschaften von Nachbargemeinden. Die Winzergenossenschaft Westhofen ist eine der wenigen „ganz alten“, welche die Jahre überdauerte: Sie wandelte sich zur Bezirkswinzergenossenschaft Westhofen und später zum Weinkontor Westhofen. Die größte Winzervereinigung bildet heute die EZG Goldenes Rheinhessen, welche 1979 gegründet wurde und seit 2011 mit dem Weinkontor Westhofen kooperiert. [Anm. 8] Auch die 1930 gegründete Winzergenossenschaft Nierstein expandierte 1959 zur Bezirks-Winzergenossenschaft Rheinfront eG und fusionierte in den nächsten Jahrzehnten mit weiteren benachbarten Winzergenossenschaften. Im Jahr 2000 erfolgte die Umbenennung in Niersteiner Weingenossenschaft eG und 2016 eine Fusion mit dem langjährigen Kooperationspartner Moselland eG. [Anm. 9] Diese beiden Beispiele sind exemplarisch für den genannten Prozess.

Im Jahr 2009 existierten in Rheinhessen nur noch neun Winzergenossenschaften und zwei Erzeugergemeinschaften. Die Größte unter ihnen ist heute die 1958 gegründete Bezirkswinzergenossenschaft Wonnegau eG mit Sitz in Monsheim. [Anm. 10] Alle zusammen bewirtschaften einen Anteil von 8,6 Prozent der gesamten Rebfläche im Anbaugebiet. Winzergenossenschaften und ähnliche Zusammenschlüsse haben sich also in Rheinhessen noch eine gewisse Bedeutung bewahrt, aber bei weitem nicht im selben Maße wie in den übrigen rheinland-pfälzischen Anbaugebieten, in Baden oder in Württemberg. [Anm. 11]

Literatur

  • Alzeyer Zeitung, Bd. 52 (1903). Nr. 164 (18.10.1903), S. 654. URL: www.dilibri.de/rlbzd/periodical/pageview/2794891 (Zugriff: 19.09.2022).
  • Bezirkswinzergenossenschaft Wonnegau eG (Hrsg.): Über Uns. URL: bwg-wonnegau.de/ueber-uns/ (Zugriff: 25.10.2022).
  • Brand, Hubertus: Die Erzeugergemeinschaft Goldenes Rheinhessen e.V. im Wandel der Zeit. In: Heimatjahrbuch Landkeis Alzey-Worms (2015), S. 61–63.
  • Currle, Otto: Die Weinvermarktung in Rheinhessen unter besonderer Berücksichtigung des Landkreises Alzeys-Worms. In: Heimatjahrbuch Landkreis Alzey-Worms, Bd. 21 (1986), S. 41–44.
  • Englert, Siegfried: Die Bezirkswinzergenossenschaft Westhofen. In: Heimatjahrbuch Landkeis Alzey-Worms, Bd. 32 (1997), S. 33–39.
  • Erzeugergemeinschaft Goldenes Rheinhessen w.V.  (Hrsg.): Entwicklung. Unsere Entwicklung in Eckdaten. URL: www.goldenes-rheinhessen.de/erzeugergemeinschaft/entwicklung/ (Zugriff: 04.08.2022).
  • Friedrich Wilhelm Raiffeisen und zeitgenössische Sozialreformer. In: regionalgeschichte.net: "Das Beispiel nützt allen. Raiffeisen, seine Genossenschaften und ihre Ausstrahlung in die ganze Welt". URL: www.regionalgeschichte.net/bibliothek/ausstellungen/das-beispiel-nuetzt-allein-raiffeisen-seine-genossenschaften-und-ihre-ausstrahlung-in-die-welt/friedrich-wilhelm-raiffeisen-und-zeitgenoessische-sozialreformer.html (Zugriff: 04.08.2022).
  • Geißler, Hartmut: Winzergenossenschaften NI und OI. URL: www.ingelheimer-geschichte.de/index.php (Zugriff: 19.09.2022)
  • Graff, Dieter: Die deutsche Weinwirtschaft nach dem Ersten Weltkrieg bis 1930. Wiesbaden 2007 (Schriften zur Weingeschichte, Bd. Nr. 155).
  • Maskow, Felix: Die Genossenschaftsidee in der Weinwirtschaft am Beispiel der Ahr. In: Institut für Geschichtliche Landeskunde Rheinland-Pfalz e.V (Hrsg.): Atlas der Weinkultur in Rheinland-Pfalz. URL: atlas-der-weinkultur-rlp.de/genossenschaftsidee (Zugriff: 04.08.2022).
  • Niersteiner Weingenossenschaft. Überuns. URL: www.moselland.de/cms/nierstein_rheinhessen_historie-1006.html (Zugriff: 19.09.2022).
  • Nordblom, Pia: "Volksgemeinschaft" im Weinglas? Zur Beziehungsgeschichte von Weinbau und Nationalsozialismus in Rheinhessen. In: Weinkultur und Weingeschichte an Rhein, Nahe und Mosel. Hrsg. v. Michael Matheus. Stuttgart 2019 (Mainzer Vorträge, Bd. 22), S. 125–141.
  • Türk, Henning: Verwissenschaftlichung, Assoziierung, Verrechtlichung. Prozesse und Rahmenbedingungen des Weinbaus im deutschen Südwesten seit dem 19. Jahrhundert am Beispiel Rheinhessens. In: Weinbau in Rheinhessen. Beiträge des Kulturseminars der Weinbruderschaft Rheinhessen zu St. Katharinen am 14. November 2015. Hrsg. v. Andreas Wagner. Wiesbaden 2016 (Schriften zur Weingeschichte, Bd. Nr. 190), S. 10–30 
  • Weinwirtschaftsbericht. Rheinland-Pfalz, Deutschland und die Welt. Mainz 2010.
     

Anmerkungen:

  1. Die Entwicklung der modernen Genossenschaftsidee geht im deutschsprachigen Raum maßgeblich zurück auf Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Hermann Schulze-Delitzsch; vgl. hierzu Friedrich Wilhelm Raiffeisen und zeitgenössische Sozialreformer. In: Institut für Geschichtliche Landeskunde Rheinland-Pfalz e.V. (Hrsg.): „Das Beispiel nützt allen. Raiffeisen, seine Genossenschaften und ihre Ausstrahlung in die ganze Welt“. URL: https://www.regionalgeschichte.net/bibliothek/ausstellungen/das-beispiel-nuetzt-allein-raiffeisen-seine-genossenschaften-und-ihre-ausstrahlung-in-die-welt/friedrich-wilhelm-raiffeisen-und-zeitgenoessische-sozialreformer.html (Zugriff: 04.08.2022). Zurück
  2. Die Winzergenossenschaft von Nieder-Ingelheim mietete 1932 sogar ein Lokal in Frankfurt, um im Sinne einer Straußwirtschaft die Absatzsteigerung selbst in die Hand zu nehmen; vgl. hierzu Nordblom 2019, S. 128. Zurück
  3. Maskow, Felix: Die Genossenschaftsidee in der Weinwirtschaft am Beispiel der Ahr. In: Institut für Geschichtliche Landeskunde Rheinland-Pfalz e.V. (Hrsg.): Atlas der Weinkultur in Rheinland-Pfalz. URL: https://atlas-der-weinkultur-rlp.de/genossenschaftsidee (Zugriff: 04.08.2022). Zurück
  4. Es ist bisher nicht abschließend erforscht, welche Genossenschaft in Rheinhessen beanspruchen darf, die älteste zu sein: Zu den ältesten noch existierenden gehören das Weinkontor Westhofen (1920), die Winzergenossenschaft Nierstein (1930) sowie die Winzergenossenschaften Mainz-Ebernheim, Albig und Rheinhessische Schweiz in Wöllstein (alle 1936); vgl. hierzu Türk, Henning 2016, S. 23–24. Die Fördermittel zur Gründung von Genossenschaften waren zweckgebunden und dienten üblicherweise der Errichtung von Anlagen und dem Erwerb von technischer Ausstattung; vgl. hierzu Graff 2007, S. 77–79. Eine der ältesten in Rheinhessen überhaupt mag möglicherweise die Winzergenossenschaft in Ingelheim gewesen sein, die bereits 1901 gegründet wurde; vgl. hierzu Geißler, Hartmut: Winzergenossenschaften NI und OI. URL: http://www.ingelheimer-geschichte.de/index.php?id=322 (Zugriff: 19.09.2022). Eine weitere ganz alte findet sich in Bechtheim. So berichtete bereits 1903 die Alzeyer Zeitung über die Fertiggestellung eines Kellers dieser neugegründeten Winzergenossenschaft; vgl. hierzu Alzeyer Zeitung. 52. Jg (1903). 164 (18.10.1903), S. 654. URL: https://www.dilibri.de/rlbzd/periodical/pageview/2794891 (Zugriff: 19.09.2022). Zurück
  5. Zit. Currle 1986, S. 41. Zurück
  6. Englert 1997, S. 33–34. Zurück
  7. Englert 1997, S. 35. Zurück
  8. Englert 1997, S. 36–37; Brand 2015, S. 62.; Erzeugergemeinschaft Goldenes Rheinhessen w.V.  (Hrsg.): Entwicklung. Unsere Entwicklung in Eckdaten. URL: https://www.goldenes-rheinhessen.de/erzeugergemeinschaft/entwicklung/ (Zugriff: 04.08.2022). Zurück
  9.   Niersteiner Weingenossenschaft. Überuns. URL: https://www.moselland.de/cms/nierstein_rheinhessen_historie-1006.html (Zugriff: 19.09.2022). Zurück
  10. Bezirkswinzergenossenschaft Wonnegau eG (Hrsg.): Über Uns. URL: https://bwg-wonnegau.de/ueber-uns/ (Zugriff: 25.10.2022). Zurück
  11. Türk 2016, S. 23–24; Zur Einordnung: An der Ahr haben die Genossenschaften einen Anteil von 57,9 Prozent der Anbaufläche, an der Mosel 26,9 Prozent, in der Pfalz 21,1 Prozent, am Mittelrhein 10,5 Prozent, in Rheinhessen 8,6 Prozent und an der Nahe 1,5 Prozent (Stand 2009); vgl. hierzu Weinwirtschaftsbericht 2010, S. 66. Zurück

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