Moderne Stahltanks haben einige Vorzüge gegenüber Holzfässern. Vollständig ersetzt haben sie diese jedoch nicht.
Moderne Stahltanks haben einige Vorzüge gegenüber Holzfässern. Vollständig ersetzt haben sie diese jedoch nicht.  Bild: Caftor / shutterstock.com

Glykolweinskandal

Anlass für langfristiges Umdenken

Süßer Wein zu möglichst günstigen Preisen erfreute sich in den 1980er Jahren in Deutschland großer Beliebtheit. Kreative Betrüger profitierten davon, worunter der Ruf der gesamten Branche litt. Der Trend gipfelte nach mehreren kleineren Skandalen [Anm. 1] im sogenannten Glykolweinskandal.

 „Glykol“, vom altgriechischen Wort γλυκύς (glykys) für „süß“, – Wort des Jahres 1985 – beherrschte damals die Berichterstattung in ganz Deutschland. Tatsächlich handelte es sich bei der eingesetzten Chemikalie jedoch um die Verbindung Diethylenglykol. Dieses leicht sirupartige Mittel wurde den Weinen nur zweitrangig zum Süßen zugesetzt, sondern wirkt vielmehr – ähnlich wie das natürlich vorkommende Glyzerin – extrakterhöhend. Es täuscht also eine bessere Qualität vor. Ab 50 bis 100 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht ist der Stoff allerdings gesundheitsschädlich. [Anm. 2] Entwickelt wurde das Verfahren durch den österreichischen Weintechniker Otto Nadrasky, der sein Rezept an betrügerische Winzer- und Kellereibetriebe verkaufte. [Anm. 3] Im Dezember 1984 wurde der Stoff erstmals in Eisenstadt im Burgenland nachgewiesen, nachdem die Steuererklärung eines Panschers zuvor bei den österreichischen Behörden einen Anfangsverdacht geweckt hatte und ein anonymer Tipp eingegangen war. [Anm. 4]

Wenig später wurde dieselbe Substanz auch in rheinhessischen Weinen festgestellt. [Anm. 5] Es stellte sich auf diese Weise heraus, dass eine kleine Zahl deutscher Kellereien ihre Weine heimlich mit österreichischen vermischte. [Anm. 6] Damals exportierte Österreich 74% seines Weines in die BRD, überwiegend in Tankwagen. [Anm. 7] Die Angelegenheit erhielt in Deutschland darüber hinaus eine zusätzliche Dimension, da verschiedene politische Akteure nur geringes Interesse an der Aufklärung erkennen ließen. Ein politischer Skandal nach dem anderen überschattete den ursprünglichen Weinbetrug. [Anm. 8] Die juristische Aufarbeitung in Deutschland zog sich über ein Jahrzehnt hin. [Anm. 9]

Für gesundheitsschädliche Folgen war die Menge an Diethylenglykol zu gering. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Winzer wurde aber nachhaltig erschüttert. Leidtragende waren vor allem die rheinhessischen Winzer – mit wenigen Ausnahmen gänzlich unverschuldet. [Anm. 10] Mit einer Großdemonstration versuchten sie am 14. August 1985, auf sich aufmerksam zu machen. [Anm. 11]

Bereits das Wort „Diethylenglykol“ als chemischer Fachausdruck war verdächtig. Die Angst vor chemischer Verunreinigung beherrschte den medialen Diskurs. [Anm. 12] Die „Spätlese aus der Chemieküche“ wurde bald sprachlich zur „Spätlese aus der Giftküche“. [Anm. 13] Regelmäßig bezeichnete man Diethylenglykol fälschlich als Frostschutzmittel. Die Süddeutsche Zeitung titelte: „Eiswein aus dem Burgenland“ und „Was dem Kühler gut tut, kann dem Spitzkühler des Zechers nicht schaden“. Der Hinweis, man könne Burgenländer Spätlese im Winter unbedenklich und bruchsicher auf Balkonen lagern, sowie vergleichbare Anspielungen fanden sich in fast allen Zeitungen. [Anm. 14] Dem Skandal zugrunde lag nicht nur der wirtschaftliche Betrug und das gesundheitliche Risiko, sondern auch die soziologische Verunreinigung von Wein als kulturellem Symbol. [Anm. 15]

Der sogenannte Glykolweinskandal hatte weitreichende Folgen: Die Landespolitik ging durch neue Regelungen stärker gegen Überproduktion vor. Man erhöhte zudem die Standards der Kontrollen [Anm. 16] und trennte die Zuständigkeit der rheinland-pfälzischen Ministerien, um politische Interessenskonflikte zwischen wirtschaftlicher Interessensvertretung und Verbraucherschutz zukünftig besser zu vermeiden. [Anm. 17] Es wurden umfassende Investitionen in Qualitätsmanagement und die Ausbildung der Winzer getätigt. [Anm. 18] Eine qualifizierte Berufsausbildung, wie die des Weinbautechnikers oder des Weinbauingenieurs, setzte sich langsam als Standard bei der neuen Winzergeneration durch. 

Die 1990er Jahre waren, nicht zuletzt aufgrund dieses Skandals, geprägt von einer regelrechten Qualitätsoffensive im rheinhessischen Weinbau: Die Berufung auf Tradition und Innovation, die mediale Darstellung von Winzerfamilien sowie der um die Jahrtausendwende etablierte Begriff des Terroirs gehen auf diese Zeit zurück. Die Schaffung der modernen „Marke“ Rheinhessen als Weinerlebnislandschaft ist direkte Konsequenz dieser Entwicklung. [Anm. 19] Zudem halfen sich die rheinhessischen Winzerinnen und Winzer durch die Eröffnung von Straußwirtschaften und eine verbesserte Selbstvermarktung.

Auf Konsumentenseite folgte letztlich eine Trendwende im Verbraucherverhalten: Die Nachfrage nach immer billigeren, süßlichen Weinen nahm nach 1985 schlagartig ab.

Urheberschaft

Autor: Simeon Guthier
Stand: 25.10.2022

Literatur

  • Mahlerwein, Gunter: Rheinhessen 1816 - 2016. Die Landschaft, die Menschen und die Vorgeschichte der Region seit dem 17. Jahrhundert. Mainz 2015.
  • Wiczlinski, Verena von: "Spätlesen aus der Chemieküche". Der Glykol-Skandal im Jahr 1985 und seine Folgen. In: Weinbau in Rheinhessen. Beiträge des Kulturseminars der Weinbruderschaft Rheinhessen zu St. Katharinen am 14. November 2015. Hrsg. v. Andreas Wagner. Wiesbaden 2016 (Schriften zur Weingeschichte, Bd. Nr. 190).
  • Worth, Maria-Anna: Schmutz und Skandal. Eine soziologische Fallstudie des Glykolweinskandals. Frankfurt am Main, New York, 1991 (Campus Forschung, Bd. Nr. 656).
     

Anmerkungen:

  1. Schon zu Beginn des Jahrzehnts deckten Fahnder des Landes Rheinland-Pfalz in allen Anbaugebieten „Klebrige Spuren“ rund um das Thema Invertzucker auf, so eine Schlagzeile aus Der Spiegel (45/1980). Online unter: https://www.spiegel.de/wirtschaft/klebrige-spuren-a-1b58d125-0002-0001-0000-000014324616 (Aufruf: 24.05. 2022). Dies war kein Einzelfall. Insgesamt wurden in den acht Jahren vor dem Glykolweinskandal sieben verschiedene Weinfälscherprozesse geführt; vgl. hierzu Wiczlinski, Verena von, 2016, S. 98–99. Zurück
  2. Wiczlinski, Verena von, 2016, S. 85–86. Ab einem Gramm je Kilogramm Körpergewicht ist die orale Zufuhr tödlich; Alkohol hemmt in Verbindung zudem den Abbauprozess; vgl. hierzu Worth, Maria-Anna, 1991, S. 13. Zurück
  3. Worth, Maria-Anna, 1991, S. 10–11. Zurück
  4. Wiczlinski, Verena von, 2016, S. 85. Schon am 28. Januar 1985 wurde im Geheimen ein gaschromatographisches Nachweisverfahren für Diethylenglykol entwickelt. Die chemische Nachweisgrenze konnte rasch auf 5 Milligramm pro Liter gesenkt werden. Die Weine waren vorher oft schon sensorisch negativ aufgefallen, aber konnten analytisch jetzt erst beanstandet werden; vgl. hierzu Wiczlinski, Verena von, 2016, S. 86. Zurück
  5.   Am 23. Juli 1985 gab das Untersuchungsamt in Mainz bekannt, in rheinhessischen Weinen Diethylenglykol gefunden zu haben. Es handelte sich um Weine der Niederthäler Hof, Weinbau-Weinkellerei GmbH in Schloßböckelheim, dem größten deutschen Weinhandelsunternehmen im Besitz des Berliner Wirtschaftssenators Elmar Pieroth unter der Geschäftsführung seines Bruders. Diese beschuldigten ihren Zulieferer, das Weingut Römerhof. Auch in der Weinkellerei Walter Seidel in Alsheim wurde man wenig später fündig; vgl. hierzu Wiczlinski, Verena von, 2016, S. 96–97 und Worth, Maria-Anna, 1991, S. 23–24. Zurück
  6. Worth, Maria-Anna, 1991, S. 25–27. Zurück
  7. Wiczlinski, Verena von, 2016, S. 84–85. Bei den Tankwagen zeigte sich das Ausmaß der kriminellen Energie: Einzelne österreichische Tankwagen waren so manipuliert, dass sie über einen kleinen Extra-Behälter mit unverfälschtem Wein für den Kosthahn verfügten; vgl. hierzu Wiczlinski, Verena von, 2016, S. 89. Zurück
  8.   Kenntnisse über Nachweis von Diethylenglykol in Trier, wo man sich bereits auf kollegialer Ebene mit den österreichischen Behörden ausgetauscht hatte, wurden nicht an das Ministerium für Umwelt und Gesundheit weitergegeben; vgl. hierzu Wiczlinski, Verena von, 2016, S. 91–93 und S. 101-104. Zurück
  9. Wiczlinski, Verena von, 2016, S. 105–107. Zurück
  10. Vor allem die kleineren Winzer und Winzergenossenschaften – von jenen war keine einzige in den Skandal involviert – traf das rufschädigende Verhalten einzelner. Mit sieben Millionen Mark 1986 und nochmals drei Millionen Mark 1987 versuchte die Landesregierung die akute finanzielle Not zu lindern. Das Vertrauen der Verbraucher in die Winzer und in die Regierung blieb jedoch nach wie vor stark erschüttert; vgl. hierzu Wiczlinski, Verena von, 2016, S. 104. Zurück
  11. Wiczlinski, Verena von, 2016, S. 100. Zurück
  12. Maria-Anna Worth verweist in diesem Zusammenhang zur Verdeutlichung auf einen Aprilscherz einer bayerischen Zeitung aus dem Jahr 1986, welche behauptet habe, in einer lokalen Brauerei die Chemikalie „Ethanol“ im Bier entdeckt zu haben. Zahlreiche besorgte Anrufer meldeten sich. Die Brauerei wies die „Beschuldigung“ von sich; vgl. hierzu Worth, Maria-Anna, 1991, S. 74. Zurück
  13. Wiczlinski, Verena von, 2016, S. 87–89. Zurück
  14. Zum Einsatz als Frostschutzmittel wird üblicherweise auf Ethylenglykol zurückgegriffen, nicht auf Diethylenglykol; vgl. Worth, Maria-Anna, 1991, S. 14–15. Zurück
  15. Worth, Maria-Anna, 1991, 36–51 und S. 84. Die Wahrnehmung als Verunreinigung war eine höchst persönliche Einschätzung. Nicht alle Konsumenten wollten nachvollziehen, weshalb sie den Wein nun wegschütten sollten, den sie seit Jahren gerne tranken. Der in München auf einer Müllsammelstelle abgegebene Glykolwein soll anschließend wieder für eine Mark die Flasche verkauft worden sein; vgl. hierzu Worth, Maria-Anna, 1991, S. 29. Zurück
  16. Noch im Jahr 1985 wurden aufgrund der verschärften Kontrollen weitere Skandale aufgedeckt: Essigsäure-Desinfektionsmittel in italienischem Perlwein, Natriumazid und Monoessigsäure in anderen österreichischen Weinen, Diethylenglykol in ungarischen Weinen, Ethylenglykol in italienischem Schaumwein, Diethylenglykol in Österreich letztlich auch in Traubensaft, Sekt und sogar Tabak. Die Reinheit des Produkts Wein stand damals insgesamt infrage. Vgl. hierzu Worth, Maria-Anna, 1991, S. 27–28. Zurück
  17. Worth, Maria-Anna, 1991, S. 30 und S. 52–54. Dank dieser Trennung, kann die Kontrolle konsequenter durchgesetzt werden. Einzelne Ausnahmen werden auf diese Weise heute noch aufgespürt. So beispielsweise 2011 ein Winzer, der trotz warmen Winter Eiswein produzierte, und 2014 ein Barrique-Wein auf Basis von Vanillezucker; vgl. hierzu Wiczlinski, Verena von, 2016, S. 112. Zurück
  18. Mahlerwein, Gunter, 2015, S. 366–367; Wiczlinski, Verena von, 2016, S. 110–111. Zurück
  19. Mahlerwein, Gunter, 2015, S. 369 und S. 377. Zurück

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