Mythen des Mittelalters
Alles „Finsterstes Mittelalter“?
Das historische Mittelalter war nicht ganz so „finster“, wie in Hollywood und manchen Abenteuerromanen dargestellt. Viele populäre Mythen über diese Epoche werden den ausdifferenzierten gesellschaftlichen Strukturen, dem ausgeklügelten Wirtschaftswesen, den verschiedenen Künsten, dem technologischen Fortschritt und überhaupt dem gesellschaftlichen Zusammenleben nicht gerecht. Das Bild eines stets hungrigen, ungewaschenen und schlecht gekleideten „ärmlichen Bauern“, der schutzlos der Obrigkeit ausgeliefert wäre und immer in ständiger Angst vor Ausbeutung, Hungersnot, Krieg und Pest ein entbehrungsreiches Leben führen müsste, passt nicht zur archäologischen und historischen Überlieferung. Es handelt sich bei diesen Vorstellungen vielfach um übersteigerte Abgrenzungstendenzen aus der Zeit der Aufklärung, die sich bis heute hartnäckig halten. [Anm. 1] Was mitunter korrekt wiedergegeben wird, ist der in Weinbauregionen – trotz verfügbarem Trinkwasser – historisch deutlich höher anzusetzende Weinverbrauch und die Allgegenwärtigkeit des Getränks in vielen sozialen Gepflogenheiten. [Anm. 2]
Nicht weniger Mythen ranken sich um Karl den Großen. Von seiner Kaiserpfalz in Ingelheim aus soll er aufgrund der frühen Schneeschmelze die Anlegung von Weinbergen im Rheingau befohlen haben. Belege für diese Legende gibt es nicht. Fast wortgleiche Erzählungen sollen sich zudem für die Weinlage Corton-Charlemagne in Burgund finden. [Anm. 3] Er soll des Weiteren die Burgunderrebe nach Rheinhessen gebracht haben, was wohl ebenfalls ins Reich der Legenden zu verweisen ist. [Anm. 4] In Wirklichkeit war Karl der Große einer der größten, womöglich der größte, Grundbesitzer und damit Weinbergsbesitzer im Reich. Er musste sich also aus hoheitlichem Interesse und aus Eigeninteresse um den Weinbau sorgen, der damals einen elementaren Wirtschaftszweig ausmachte. [Anm. 5] Insbesondere eine als „Capitulare de villis“ bezeichnete Verordnung aus seiner Regierungszeit, die sich neben anderen Themen mit der Landwirtschaft und dem Weinbau auseinandersetzt, wird ihm üblicherweise zugeschrieben. [Anm. 6] Häufig liest man, damit sei das Treten von Trauben mit bloßen Füßen verboten und das Konzept der Straußwirtschaften eingeführt worden. [Anm. 7] Die Anordnung bezüglich des Traubentretens darf möglicherweise so verstanden werden, dass das Pressen der Trauben mit Füßen nur dann untersagt wurde, wenn die notwendige Reinlichkeit nicht sichergestellt werden konnte. [Anm. 8] Bei der angeblichen Einführung von Straußwirtschaften durch Karl den Großen handelt es sich um einen Übersetzungsfehler. [Anm. 9]
Erste Schriftquellen
Erste Belege für Weinbau finden sich in Rheinhessen im 8. Jahrhundert. Durch Urkunden aus dem klösterlichen Kontext ist der Weinbau für fast 50 Orte belegt. [Anm. 10] Bis zum Ende des 9. Jahrhunderts steigt diese Zahl auf 88 Gemeinden. [Anm. 11] Die älteste schriftliche Nennung des rheinhessischen Weinbaus bezieht sich auf den 18. Januar 752: Der Mainzer Erzbischof Bonifatius erwarb für das Kloster Fulda einen Weinberg an der Stadtmauer sowie in Bretzenheim. Die Urkunde ist nicht mehr überliefert. Ihr Inhalt konnte jedoch aus dem Codex Eberhardi und anderen mittlerweile verlorenen Kopiaren rekonstruiert werden. [Anm. 12] Eine weitere vermutete Urkunde um das Jahr 741 oder 742, auf welche in einer späteren Bestätigung Ludwigs des Frommen aus dem Jahr 822 Bezug genommen wird, mag möglicherweise als zusätzliches Indiz für rheinhessischen Weinbau zu dieser Zeit gelten. Diese Urkunde beschreibt die Schenkung der Basilika (hl. Maria) im Dorf Nierstein und der Kirche (hl. Remigius) im Dorf Ingelheim, samt „Zugehörigkeiten“, an das damals neugegründete Bistum Würzburg. [Anm. 13] Es darf angenommen werden, dass sich unter diesen Zugehörigkeiten auch Weinberge befanden, diese werden jedoch nicht ausdrücklich genannt.
Arbeiten im Mittelalter
Über die Arbeitsmethoden im Frühmittelalter ist wenig bekannt. Man geht davon aus, dass es sich um vergleichsweise einfache Werkzeuge handelte: Hacke, Spaten und Rebmesser waren die Hauptwerkzeuge, Korbbütten nutzte man zur Ernte, vor dem Keltern stampfte man die Trauben mit den Füßen, gelagert und transportiert wurde der Wein via Amphore und Fass. [Anm. 14] Zum Austreten empfahl Petrus de Crescentiis im 13. Jahrhundert kein Becken, sondern einen speziellen Tretzuber mit Sieb. [Anm. 15] Als kostbarste Winzergerätschaft darf sicher die Kelteranlage gelten, damals meist in der Bauweise von Baumkeltern oder leichteren Schrauben- und Spindelkeltern. Möglicherweise gab es regional begrenzt auch weitere Sonderformen, wie Keilpressen und später Radkeltern – bisher fehlen der Forschung gesicherte Kenntnisse. [Anm. 16] Die Errichtung und Unterhaltung solcher Großmaschinen war nur durch gemeinschaftliche Finanzierung, oder durch große geistliche oder weltliche Grundherrschaften möglich. Zur Gegenfinanzierung bediente man sich häufig des Rechtsmittels des „Kelterbanns“. Alle Weinbauern wurden dazu gezwungen, die ihnen zugewiesene Bannkelter zu nutzen und als Nutzungsgebühr einen Teil der Ernte abzugeben. Die Durchsetzung dieses Rechts bedingte mitunter die terminlich festgelegte Pflicht zur vorzeitigen Lese, lange Anfahrtswege, schädigende Wartezeiten des Mosts und ein insgesamt nicht auf Weinqualität optimiertes Kelterverfahren. [Anm. 17]
Das Reinheitsgebot
Unter dieser Überschrift ist nicht das bayerische Reinheitsgebot für Bier aus dem Jahr 1516 gemeint, sondern das älteste deutsche Reinheitsgebot – nämlich das für Wein: Schon 1438 ordnete König Albrecht II. an, dass „kein unziemlich Gemächt“ (keine schlechten Zusatzstoffe) in den Wein gegeben werden dürften. 1475 folgte ein kaiserliches Verbot Friedrichs III. „den Wein anders zu machen, als er gewachsen ist“. [Anm. 18] Darin stand, dass fortan Trauben grundsätzlich nur noch ohne Zusätze gekeltert und in unbehandelten Fässern gelagert werden durften. Die einzige Ausnahme, also die einzige erlaubte Weinbehandlung, war die einmalige Schwefelung mit genau vorgeschriebenen Maximalmengen, sofern diese gekennzeichnet wurde. Das Schwefeln etablierte sich nördlich der Alpen bereits im 14. Jahrhundert und wurde im 15. Jahrhundert zum Standard. Es erlaubte den weiteren Transport und das Lagern von Weinen über mehrere Jahre. [Anm. 19] Maximilian I., Sohn und Nachfolger von Friedrich III., bestätigte die gesamte Regelung nochmals auf dem Reichstag zu Freiburg 1498. In der Folgezeit wurde das Gesetz noch mehrfach angepasst und dessen (offenbar nicht konsequent befolgte) Einhaltung bis ins 16. Jahrhundert immer wieder gefordert. [Anm. 20]
Kräuterweine, Würzweine und andere Sonderweine erfreuten sich bis weit ins 19. Jahrhundert weiterhin großer Beliebtheit. Bei den genannten Gesetzen stand die Deklarationspflicht im Vordergrund, nicht eine geschmackliche Bevormundung der Weintrinkerinnen und -trinker.
Urheberschaft
Autor: Simeon Guthier
Stand: 25.10.2022
Literatur
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